Als Antwort auf die Frage, wo in Europa die Hotspots der Startup-Szene zu finden seien, fallen immer wieder die Namen von Estland und seiner Hauptstadt Tallin. Wie kaum ein anderes Land hat sich die Republik im Nordosten des Kontinents auf den digitalen Wandel in allen Lebensbereichen eingestellt.

Die Erfolgsgeschichte Estlands beruht auf einer Reihe cleverer Regierungsentscheidungen, die über alle Parteigrenzen hinweg getroffen wurden. Im März 2000 wurde ein Gesetz verabschiedet, das digitalen Unterschriften die gleiche rechtliche Gültigkeit gab wie herkömmlichen. Das ebnete den Weg für viele elektronische Dienstleistungen, die das Leben sowohl für Unternemen als auch Privatpersonen viel einfacher und effizienter machte. Im selben Jahr begann die Regierung mit dem E-Kabinett-System, das papierlose Kabinettssitzungen erlaubt und deren wöchentlichen Zeitaufwand von fünf Stunden auf 30 bis 90 Minuten reduzierte.

Ebenfalls im Jahr 2000 konnten Esten erstmals ihre Steuererklärung online abgeben. Mittlerweile nutzen diese Möglichkeit 95 % der Bevölkerung. Durch das X-Road-Programm sind über 800 Behörden und Organisationen über das Internet erreichbar; so kann beispielsweise jeder seine Krankenakte am PC einsehen. Und 2007 war Estland die erste Nation, die eine Parlamentswahl auch online abgehalten hat. Möglich ist das alles, da der Staat seinen Bürgern Zugriff auf das Internet garantiert und auch in entlegenen Gegenden WLAN-Zugangspunkte zur Verfügung stellt. Kein Wunder, dass in einem so organisierten Land die Startup-Szene eine große Rolle spielt.

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Die weltweit größte Erfolgsgeschichte, die ihre Wurzeln in Estland hat, ist die von Skype. Das Unternehmen wurde 2003 von dem Schweden Niklas Zennström und dem Dänen Janus Friis in Luxemburg gegründet. Die Software allerdings, die in der Entwicklungsphase noch den Namen Skyper 1.0 trug, haben die Esten Ahti Heinla, Priit Kasesalu und Jaan Tallinn entwickelt. Diese insgesamt fünf Internetgrößen haben übrigens auch bei der Filesharing-Software Kazaa mitgewirkt. Der Rest ist Geschichte: Im September 2005 kaufte eBay Skype für 3,1 Milliarden US-Dollar. Im Mai 2011 bekundeten Facebook, Google und Microsoft Interesse an einer Übernahme des Telefoniedienstleisters. Den Zuschlag erhielt schließlich Microsoft mit einem Kaufpreis von 8,5 Milliarden US-Dollar, dem Zehnfachen des Jahresumsatzes von Skype. Das war die bisher teuerste Übernahme in der Geschichte des Softwareriesen.

Der Este Taavet Hinrikus war einst als Skype-Angestellter in London tätig und bekam sein Gehalt in Euro. Sein Landsmann Kristo Käärmann arbeitete ebenfalls in der britischen Hauptstadt und musste eine Hypothek in Euro abzahlen. Zusammen entwickelten die beiden folgende Strategie: Jeden Monat überwies Kristo Britische Pfund an Taavets britisches Konto und Taavet füllte Kristos estnisches Konto mit Euros auf. Dafür ergoogelten die beiden den echten, vom Markt festgelegten, Währungswechselkurs. So kamen beide an die benötigte Währung ohne auch nur einen Cent an versteckten Bankgebühren zu bezahlen. Dieses Peer-to-Peer-Prinzip übetrugen sie auf ihr Startup TransferWise, das inzwischen europaweit sowie in den USA und Indien erfolgreich ist.

Lingvist_People_CoFoundersMait Müntel und Ott Jalakas, zwei der Gründer von Lingvist. Der dritte Mann ist Tanel Hiir, lange Zeit tätig bei – Skype.

Wer beim CERN-Forschungszentrum in der Schweiz arbeitet, ist in der Regel ein ziemlich kluger Kopf und schafft es daher vielleicht auch, Französisch innerhalb von 200 Stunden zu lernen. Mait Müntel jedenfalls hat diese Herausforderung gemeistert und ist dabei mit mathematischer Präzision vorgangen. Das dabei entstandene Programm Lingvist ist so konzipiert, dass es auch weniger brillianten Zeitgenossen gelingen soll, eine Fremdsprache relativ schnell zu beherrschen, indem man sich die wichtigsten Vokabeln und Phrasen in der Reihenfolge ihrer Häufigkeit und Relevanz aneignet. Lingvist ist in einer kostenlosen Beta-Version bisher nur für Französisch verfügbar; weitere Sprachen sollen demnächst folgen.

Weitere estische Erfolgsstories sind das Verkaufs-Pipeline-Tool Pipedrive, der Heim-Kräuter- und Gemüsegarten Click & Grow oder die Einzelhandelssoftware von Erply, die vor allem in den USA erfolgreich ist. Und natürlich Fortumo, eine Mobile Payment App, die in 88 Ländern zum Einsatz kommt. Es werden nicht die letzten Welterfolge bleiben, die die kleine Baltenrepublik hervorbringt.

 

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