Schneller, höher, weiter – dieses olympische Motto lässt sich problemlos auf das Internet übertragen und auf eine Veranstaltung wie die gestern zu Ende gegangene re:publica, die sich als Schaufenster der digitalen Welt versteht. Das dort präsentierte Programm fasziniert, informiert, begeistert – und überfordert.
Seit einiger Zeit macht das Kürzel FOMO die Runde. FOMO steht für „Fear of missing out“, also die Angst, etwas zu verpassen. Besonders betroffen von diesem Phänomen sind intensive Nutzer von Smartphones und sozialen Netzwerken, die quasi im Sekundentakt geradezu zwanghaft checken, ob irgendwo irgendetwas gepostet wurde oder passiert ist. Und irgendetwas passiert ja immer irgendwo. So auch auf der re:publica, die vom 5. bis 7. Mai in der STATION-Berlin stattgefunden und wie selbstverständlich alle eigenen Rekorde gebrochen hat.
Im Inneren der STATION-Berlin: Mehr als 9.000 Gäste wurden von ca. 500 Helferinnen und Helfern unterstützt
Stolz berichten die Veranstalter von 850 Rednern aus 60 Ländern und 500 Stunden Programm, deutlich mehr als ursprünglich angekündigt (hier unser Vorbericht). Die Überforderung beginnt also schon bei der Auswahl der Vorträge – bis zu 14 Veranstaltungen finden gleichzeitig statt. Hat man sich dann für eine entschieden, die sich vielleicht als nur mittelmäßig interessant herausstellt, während von der Nachbarbühne tosender Applaus brandet, dann stellt es sich wieder ein, das FOMO-Syndrom. Es gibt alte re:publica-Hasen, die schon vor Jahren aufgegeben haben, überhaupt in das Programm zu schauen und die Panels nach dem Zufallsprinzip auszuwählen. Oder sich stattdessen auf dem dieses Jahr meist sonnendurchfluteten Innenhof zu einem Plausch zu treffen.
Schon die Auftaktveranstaltung und die erste Keynote von Netzpionier Ethan Zuckerman ließen erfrischend viel Luft aus dem prallen, kunterbunten digitalen Ballon und erklärten, das System sei kaputt und die Internetutopie in vielen Bereichen gescheitert, und das sei auch gut so (hier eine Zusammenfassung von der Zeit). So geerdet, konnte man etwas gelassener bestimmt ganz tolle Vorträge links liegen lassen, sich über nützliche oder einfach schöne Wearables informieren, musste sich nicht wundern, wie staatstragend die Popbeauftragten Tim Renner und Dieter Gorny auftraten und wie vernünftig YouTube-Stars wie LeFloid (Wie überhaupt die gesamte re:publica viel zu groß geworden und wie ihr Thema zu sehr im Mainstream angekommen ist, um als Plattform einer echten Avantgarde fungieren zu können -aber das macht ja auch nichts), und konnte sich mit Netflix-CEO Reed Hastings auf die nächsten Programmhöhepunkte des Streamingdienstes freuen.
Zu Beginn des zweiten Tages machte der bewusst etwas verpeilt agierende Mathematiker Gunter Dueck (Bild oben) darauf aufmerksam, dass Optimierung und Maximierung nicht identisch sind, sondern häufig im Widerspruch zueinander stehen. Er empfahl, den Tag nur zu 85 % zu verplanen, um Platz für Eventualitäten zu haben. Wer immer bei 100% anfängt, hat keine Zeit für Kreativität und Innovation. In seinem Vortrag unter dem Titel „Schwarmdummheit“ (nicht ganz zufällig auch der Titel seines aktuellen Buches) verdeutlichte er zudem den Unterschied zwischen Korrelation und Kausalität und sorgte mit einigen Seitenhieben gegen BWLer für Lacher.
Das Motto der rp15 lautete „Finding Europe“, aber man konnte sich mühelos ein abwechslungsreiches Programm zusammenstellen, ohne sich mit Europa beschäftigen zu müssen. Um ein Thema kam man allerdings kaum herum: Big Data. Wem gehören die gewaltigen Datenmengen, die alle Internetnutzer jeden Tag erschaffen, wie werden sie genutzt, wie beeinflussen Algorithmen unser Leben und wie soll der Einzelne damit umgehen? Dazu kurz ein Einschub aus der von der re:publica veröffentlichten Liste der Superlative: Der Daten-Traffic in und um die STATION-Berlin herum belief sich während der drei Tage auf etwa 6 Terabyte, mit Spitzenwerten von 700MBit/s. Auch hier ist Überforderung ein geeignetes Stichwort.
Der Traum, irgendwann die Welt erklären zu können, wenn erst genug Informationen vorlägen, ist so alt wie die Wissenschaft. In den Zeiten von Big Data glauben viele, der Erfüllung dieses Traums so nah zu sein wie nie zuvor. Vor allem in der Werbung werden die Datenmassen eingesetzt, um Zielgruppen und einzelne Konsumenten noch genauer ansprechen zu können, oder um zu prognostizieren, welcher Song der nächste Sommerhit werden könnte. Algorithmen können aber auch helfen, eine realistische Zahl der Toten des Krieges in Syrien zu errechnen, jenseits aller Propaganda. Big Data ist also nicht a priori gut oder böse, es kommt darauf an, was man daraus macht und wie transparent das System ist. Entsprechend wurden bei mehreren Vorträgen Forderungen laut, den Nutzern die Herrschaft oder zumindest die Kenntnis über ihre Daten zu geben und Algorithmen auch nach ethischen und nicht nur nach praktischen Gesichtspunkten zu beurteilen.
Hat sich die re:publica also gelohnt? Unbedingt, trotz Ernüchterung in vielen Bereichen und FOMO, so dass die Macherinnen und Macher mit berechtigten Stolz auf die diesjährige Veranstaltung zurückblicken und schon die nächste, die zehnte, in Angriff nehmen können, die natürlich noch größer und besser werden soll. Dann wird es bestimmt wieder Höhepunkte geben wie den Auftritt des polnisch-britischen Philosophen Zygmunt Bauman (Bild oben). Geboren 1925, machte er deutlich, dass das Internet keine Sache der Jugend ist, und fand einfache und einleuchtende Erklärungen für den Erfolg von sozialen Medien: die Angst vor der Einsamkeit und die Sehnsucht nach Anerkennung. Zudem stellte er fest, dass wir, auch bedingt durch das Überangebot, eher in einer Vergessens- denn in einer Wissensgesellschaft leben, und rief das Publikum zu mehr kritischer Wachsamkeit auf.
Noch mehr Applaus als Bauman erhielt wahrscheinlich nur Astronaut Alexander Gerst (Bild ganz oben), ein Überflieger und Kumpeltyp, der eine perfekte Mischung aus Entertainment und Information, nachdenklichen und amüsanten Episoden präsentierte. Er vermittelte, welche Bedeutung die Raumfahrt für die Wissenschaft hat und welche Probleme entstehen, wenn einer der Astronauten zu kleine Unterhosen bestellt. Dazu gab es atemberaubende Bilder, die die Schönheit und Verletzlichkeit der Erde verdeutlichten. Letztlich ist unser Planet nur ein winziges Staubkorn in einem riesigen Universum, ein Himmelskörper unter unzähligen anderen, und dabei einzigartig. Das ist ein Trost für alle, die glauben, mal wieder das Beste verpasst zu haben, und Auftrag zugleich.
Bildquellen: re:publica/Jan Zappner (Gerst, Dueck, Bauman), eigenes Foto